Diskurs: (Post)Demokratie

„Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen“
Max Frisch

Editorial

„Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. Hier ist die Verfassung nicht nur an sich, dem Wesen nach, sondern der Existenz, der Wirklichkeit nach in ihren wirklichen Grund, den wirklichen Menschen, das wirkliche Volk, stets zurückgeführt und als sein eignes Werk gesetzt“ (Karl Marx, Kritik des hegelschen Staatsrechts (1843), MEW 1, 231, zitiert nach HKWdM, Stichwort Demokratie). Diese kurze Charakterisierung der Demokratie durch Marx zielt auf den Kern, wonach die Ergebnisse demokratischer Prozesse (z.B. eine demokratische Verfassung) stets als Werk der davon Betroffenen, der ‚wirklichen Menschen‘ sein sollen. Von diesem Ausgangspunkt stellen sich Fragen nach dem Verhältnis von Demokratie zu Klassenherrschaft, Ökonomie, Staat, Revolution und Evolution, Inklusion und Exklusion (wer ist der Entscheidungsträger, der Demos, das Volk). Zu diesem Themenfeld erschien im Oktober 2015 das Denknetz-Jahrbuch 2015 unter dem Titel ‚Postdemokratie: Zerstörung oder Transformation des Gemeinwesens‘. Das Jahrbuch untersucht, inwiefern das ‚Objektfeld der Demokratie‘, nämlich all das, was Menschen als Kollektive etwas angeht (Gemeinwesen, öffentliche Angelegenheiten, Res Publicae) durch den Neoliberalismus zersetzt wird und welche Konsequenzen dies für demokratische Politik hat.

Der vorliegende Diskurs steht im Rahmen dieses Zyklus und will einen Einblick in die aktuelle kritisch-emanzipatorische Debatte zu Demokratie bieten. Angesichts der Breite des Themas können allerdings etliche Fragestellungen nicht berücksichtigt werden, etwa diejenigen nach Demokratie und Grundwerten, Migration, Medien, Digitalisierung. Wir werden dies zumindest teilweise noch nachliefern.

Wie immer gilt, dass weder allfällige Ansprüche an ‚Objektivität‘ noch an ‚Vollständigkeit‘ erfüllt werden (können). Diskurs macht jedoch, so unsere Hoffnung, viele interessante Einstiege in die eigene Lektüre verfügbar.

1.Grundlagen, Übersichten: Staat und Demokratie

Angesichts der Weitläufigkeit des Themas führen wir einige Einstiegstexte und Bücher an, die es erleichtern können, sich eine Übersicht über das Diskursfeld zu verschaffen. Als ein möglicher Start bietet sich der Wikipedia-Eintrag zum Thema an. Der Eintrag orientiert sich an der Maintream-Debatte zur Demokratie und macht gleich auch deren Leerstellen und Beschränkungen deutlich. So fehlen Bezüge z.B. zur sozialen Demokratie und zu Fragen der Gerechtigkeit und Reichtumsverteilung.

https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie

David Salomon gibt in seinem kurzen Buch (128 Seiten) in der Reihe „Basiswissen“ einen historischen Abriss der Demokratiefrage seit Beginn der bürgerlichen Revolutionen.

David Salomon (2012). Demokratie. Köln

Im Rahmen des Standard-Werks ‚Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart von 1991 erschien ein Artikel von Kurt Lenk (Probeme der Demokratie), der eine konzise Einführung in die Demokratietheorie bietet. Die Fragen werden gruppiert um die Frage der Demokratie als Herrschaftsform, und der Artikel beschäftigt sich entsprechend mit Legitimität, Bürokratie und Herrschaftskontrolle. Das Buch ist antiquarisch zu günstigen Preisen erhältlich.

Kurt Lenk. Probleme der Demokratie. In: Hans J.Lieber. Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart 1991 Olzog-Verlag, München.

Demokratiepolitische und staatspolitische Fragen sind offenkundig eng verwoben. Deshalb sei an dieser Stelle auch auf vier Bücher in der Reihe ‚Staatsverständnisse‘ hingewiesen, die seit 2000 im Nomos-Verlag erscheint und vom Politik- und Verwaltungswissenchaftler Prof. em Rüdiger Voigt herausgegeben wird. Die einzelnen Bände vereinen Artikel von jeweils rund zehn AutorInnen.

Informationen zur Publikationsreihe ‚Staatsverständnisse‘:
www.nomos-shop.de/reihenpopup.aspx?reihe=237

In dieser Reihe erschienen unter anderem: Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis von Antonio Gramsci. Herausgegeben von Sonja Buckel und Andreas Fischer-Lescano.

www.nomos-shop.de/Buckel-Fischer-Lescano-Hegemonie-gepanzert-Zwang/productview.aspx?product=8805

Das Staatsverständnis von Nicos Poulantzas. Der Staat als gesellschaftliches Verhältnis. Herausgegeben von Alex Demirovic, Stephan Adolphs und Serhat Karakayali.

www.nomos-shop.de/Demirovic-Adolphs-Karakayali-Staatsverst%C3%A4ndnis-Nicos-Poulantzas/productview.aspx?product=9906

Staat und Geschlecht. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen feministischer Staatstheorie. Herausgegeben von Gundula Ludwig, Birgit Sauer und Stefanie Wöhl.

www.nomos-shop.de/Ludwig-Sauer-W%C3%B6hl-Staat-Geschlecht/productview.aspx?product=11883

Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx. Herausgegeben von Joachim Hirsch, John Kannankulam und Jens Wissel

www.nomos-shop.de/Hirsch-Kannankulam-Wissel-Staat-B%C3%BCrgerlichen-Gesellschaft/productview.aspx?product=22126

2. Bürgerliche (Proto)Demokratie: Grundlegende Kritik

2.1. Bürgerliche Demokratie als Herrschaftsform

Die Geschichte der Demokratie ist eng verbunden mit der Aufklärung und mit dem Aufstieg des Bürgertums, ebenso aber auch mit der Kritik an den Begrenzungen bürgerlicher Demokratiekonzepte und –praxen. Dabei wird fundamentale Kritik daran geübt, dass mit Kapitalismus und bürgerlichem Staat überhaupt erst eine abgehobene Sphäre der Politik geschaffen werde, während die grundlegenden ökonomischen und sozialen Beziehungen als privat deklariert werden. Oder, wie es der französische Philosoph Alain Badiou ausdrückt: „Die Wählerdemokratie ist (…) konsensuelle Repräsentation des Kapitalismus, der heute in Marktwirtschaft umbenannt ist. Das ist ihre prinzipielle Korruption“ (Badiou, S.97). Damit bleibe bürgerliche Demokratie eine Herrschaftsform. Badiou kritisiert den Begriff der Demokratie als Chiffre und Wahrzeichen, das es erschwert oder gar verhindert, radikale Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben, und er schlägt vor, sich im Sinne eines „apriorischen Manövers“ von dieser Chriffre zu verabschieden. Der Text von Badiou findet sich im Sammelband ‚Demokratie? Eine Debatte‘. Dieser Sammelband bietet einen guten Einstieg in diese grundsätzliche Demokratiekritik, wie sie insbesondere auch im französischen Sprachraum formuliert wird.

Demokratie? Eine Debatte (2012). Mit Beiträgen von von Giorgio Agamben, Jacques Rancière, Slavoj Zizek, Alain Badiou, Jean-Luc Nancy, Wendy Brown, Daniel Bensaïd, Kristin Ross. Berlin

Zu Alain Badiou und seinem Oeuvre: www.zeit.de/2007/07/ST-Badiou2

Noch radikaler aktikulieren diese Kritik die in der Wiener Zeitschrift Streifzüge vereinten AutorInnen wie Franz Schandl oder Peter Klein. Sie plädieren mit Rückgriff auf Marx dafür, sich programmatisch vom Begriff der Demokratie zu verabschieden, weil man nur so die Kritik mit der nötigen Radikalität vortragen zu könne. So meint Schandl in seinem Text ‚Democrazy!‘: „Den Kapitalismus nicht wollen, die Demokratie aber schon, geht nicht“.

www.streifzuege.org

Franz Schandl. Democrazy!:  www.streifzuege.org/2014/democrazy#more-17234

Lorenz Glatz, auch er Mitglied der Streifzüge-Redaktion, wiederum betont die Verquickung der Demokratie mit den Nationalstaaten, die in (bewaffneter) Konkurrenz zueinander stehen. Demokratie ermöglicht die Einbindung des Volkes in diese nationalstaatlichen Gewalt-Kollektive. Emanzipation müsse jenseits des endlosen demokratischen Kampfplatzes stattfinden, in der „unverzweckten Kooperation für nichts als das ‚Miteinander-in-Freiheit-und-in-Freundschaft-leben‘“.

Lorenz Glanz (2015). Demokratie macht auch nur Staat. In: Denknetz-Jahrbuch 2015.

Demgegenüber schlagen die meisten linken Beiträge in den aktuellen Demokratie-Diskursen vor, einen Kampf um die Deutungshoheit über den Demokratiebegriff zu führen. Bürgerliche Herrschaft und demokratische Praxen werden als tendenziell widersprüchlich analysiert. Demokratie sei tatsächlich immer schon ein Kampffeld gewesen, doch sei es immer wieder die Opposition der Ausgeschlossenen und Ausgebeuteten, die als Motor für die Ausweitung der Wirkungsfelder demokratischer Praxen gewirkt habe.

In fast wörtlicher Gegenrede zum Diktum von Schandl (siehe oben) zitiert beispielsweise Urs Marti Max Weber, der 1906 geschrieben habe, es sei lächerlich zu glauben, Kapitalismus sei mit Demokratie und Freiheit vereinbar. Demokratie wäre demnach das Programm zur Überwindung des Kapitalismus. Marti diskutiert in seinem Buch ‚Demokratie, das uneingelöste Versprechen‘ die Ideengeschichtlichen und politischen Entwicklungen seit der Aufklärung und fragt in Zeiten der Globalisierungen nach den Möglichkeiten einer Vertiefung der Demokratie, die er darin ortet, dass Demokratie die Wirtschaft einschliessen müsse.

Urs Marti. Demokratie (2006). Das uneingelöste Versprechen. Zürich

Zehn Jahre nach dem Erscheinen des Buches zieht Marti überdies im Denknetz-Jahrbuch Bilanz. Er unterscheidet dabei die prozedurale Legitimität von der substantiellen Legitimität der Demokratie. Substantiell sind unter anderem Selbstbestimmung, Volkssouveränität, soziale Gerechtigkeit, Wohlstand für alle. Eine nur noch prozedural, d.h. auf Entscheidungsabläufe basierte Demokratie, der weder an der Substanz noch an der engagierten Teilnahme der Bevölkerungen gelegen ist, wie dies etwa auf EU-Ebene der Fall sei, sei nur schwach legitimiert. Die EU habe ihre Glaubwürdigkeit als demokratisches Projekt deshalb verspielt.

Urs Marti-Brander (2015). Demokratie im Zeitalter des Kapitalismus – ein uneinlösbares Versprechen? In: Denknetz-Jahrbuch 2015.

David Salomon betont den Doppelcharakter des Demokratiebegriffs als Programm- und Kampfbegriff mit sozialem Gehalt einerseits und als Bezeichnung für politische Systeme andererseits. Im Rückgriff auf die Geschichte der Demokratie erläutert er die Ambivalenz demokratischer Zugeständnisse des Bürgertums in Form eines – letztlich fragilen – defensiven Demokratiesystems zur Befriedung der subalternen Klassen. Gegenwärtig erleben wir allerdings eine Phase der offensiven Entdemokratisierung, in deren Verlauf der Liberalismus seine „eigenen Legitimationsressourcen aufzehrt“ (S.105).

David Salomon (2015). Demokratie zwischen Opposition und Herrschaftstechnik. In: Denknetz-Jahrbuch 2015.

Slavoj Zizek teilt die radikale Kritik an der bürgerlichen Demokratie, in der die Machthabenden höflich so tun, „als hätten sie nicht wirklich die Macht, und bitten uns, frei zu entscheiden, ob wir sie ihnen geben wollen“(S.117). Zizek untersucht, wie das Einverständnis der Machtlosen in dieses Spiel zustande kommt, und er fragt danach, wie es aufgebrochen werden kann: Durch eine passive Revolution einerseits, die die „libidinöse Besetzung der Macht“ unterläuft, durch einen demokratischen Terrorismus andererseits, durch Formen der Gewalt der in Wirklichkeit von der Macht Ausgeschlossenen, mit denen sich diese die Selbstorganisation des Volkes erkämpfen (des Volkes als Plebs, nicht im Sinne des Populismus).

Slavoj Zizek, 2012. Das „unendliche Urteil der Demokratie. In: Diverse Autoren, 2012. Demokratie? Eine Debatte. Berlin

2.2. Feministische Demokratiekritik

Birgit Sauer zeichnet in ihrem Artikel nach, wie sich feministische Staats- und Demokratiekritik seit den 1970er Jahren entwickelt hat. Für Sauer ist der Ausgangspunkt feministischer Demokratietheorie „das Problem, wie die Geschlechterdifferenz, also die sozial hergestellte Unterschiedlichkeit von Erfahrungen, Identitäten und Interessen, politisch sichtbar und repräsentierbar gemacht werden kann, ohne dass der Anspruch der Gleichheit preisgegeben wird.“ Sie diagnostiziert unter anderem einen real zweitklassigen femininen Citizenship-Status und kommt zum Schluss, dass Frauen erst dann gleichwertigen Status gewinnen, wenn die Arbeits- und Sphärentrennung zwischen öffentlich und privat überwunden wird.

Brigit Sauer (2003). Staat, Demokratie und Geschlecht – aktuelle Debatten. http://www.fu-berlin.de/sites/gpo/pol_theorie/Zeitgenoessische_ansaetze/sauerstaatdemokratie/birgit_sauer.pdf

Im Denknetz-Jahrbuch konstatiert Birgit Sauer aktuelle Grenzverschiebungen zwischen Markt, Staat, Nation und Familienökonomie respektive Privatheit. Darauf soll das Konzept der Governance als postnationale Demokratieform reagieren, wobei Versprechen nach nicht-hierarchischen, kooperativen Formen der Politik gemacht werden (Einbezug von NGO, globale Konferenzen zu Nachhaltigkeit, Gendergerechtigkeit etc). Sauer kritisiert, dass in Governance-Netzwerken Machtasymetrien noch stärker wirken als im klassisch parlamentarischen Entscheidungsprozess. Die Einbindung von NGO berge die Gefahr neuer Herrschaftstechnologien . Governance lasse sich auch verbinden mit der Forderung nach selbstregierten Menschen und ihrer Entlassung aus der vermeintlichen Überversorgung durch den Staat. Fazit: Governance sei deshalb gerade auch aus feministischer Sicht „keine demokratischere Form politischen Handelns und Entscheidens“.

Birgit Sauer (2015). Demokratie in Zweiten staatlicher Re-Skalierung. In: Denknetz-Jahrbuch 2015.

Christiane Lemke und Katrin Töns rekonstruieren in ihrem Aufsatz ein Stück der Geschichte des Streits um Differenz in der amerikanischen Politiktheorie und der Implikationen für feministische Demokratiekonzepte. Iris Marion Young fordere in ihrem Buch Politik und Differenz (1990) gruppenspezifische politische Repräsentationsformen, um sozial benachteiligten Gruppen eine effektive demokratische Beteiligung zu ermöglichen, ohne sie an der Entfaltung ihrer Andersartigkeit zu hindern. Demgegenüber betone Nancy Frazer, dass Formen ökonomisch vermittelter Ungleichheit überwunden (und nicht repräsentiert) werden müssten, Differenzen der sexuellen Orientierung und Ethnizität hingegen müssten anerkannt werden. Judith Butler wendet sich gegen Fixierungen von Differenzen, die sie als gesellschaftlich-kulturell analysiert. Seyla Benhabib wiederum betont, dass das Gelingen einer Solidar- und Bedürfnisgemeinschaft von der Fähigkeit der Beteiligten abhänge, auch den Standpunkt der Andern einnehmen zu können – ein Standpunkt, der aber laut Lemke und Töns nicht dazu führen darf, dass differenzbegründete Anliegen darin einfach subsummiert werden.

Christiane Lemke  und Katrin Töns (1998). Feministische Demokratietheorie und der Streit um Differenz. In Kurskorrekturen: Feminismus zwischen kritischer Theorie und Postmoderne; herausgegeben von Gudrun-Axeli Knapp. Frankfurt a.M. 1998. S.216 ff

2.3. Demokratie und Komplexität

Gesellschaften sind so komplex geworden, dass die breite Bevölkerung nicht mehr den nötigen Durchblick hat, um über die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse kompetent entscheiden zu können. Demokratie muss deshalb eingegrenzt werden auf Verfahren zur Auswahl respektive Abwahl der ‚Kompetenten‘. Diese Argumentationslinie ist nicht neu (sie taucht etwa auch schon bei Joseph A. Schumpeter auf). Sie wird aber angesichts der Globalisierung und der neoliberalen Agenda neu aufgelegt. Der deutsche Soziologe Helmut Willke etwa vertritt die Meinung, dass das demokratische Modell angesichts wachsender Komplexität und globaler Herausforderungen an unüberwindbare Grenzen stösst. Anstelle der – nach Willke – zunehmend überforderten BürgerInnen, politischen Organisationen und Institutionen (Parlamente) sollen vermehrt ExpertInnen und entsprechende, unabhängige Fachgremien und -institutionen treten.

Joseph A. Schumpeter (1950 / 1993). Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Tübingen und Basel

Helmut Willke (2014). Demokratie in Zeiten der Konfusion. Berlin

Interview mit Willke im Tages-Anzeiger vom 21.11.2014: http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Die-Schweizer-Demokratie-ist-ueberfordert/story/29622529

Ingolfur Blühdorn führt an, angesichts hoher Komplexität und den vielfältigen Ansprüchen des „modernen“ Lebens sei die substanzielle politische Partizipation gar kein Bedürfnis der Menschen und die Delegation an Profis und ExpertInnen deshalb gewollt – der postdemokratische Politikstil wird bei ihm zum zeitgemässen und funktionalen Modus Operandi. Die „simulative Demokratie“ wird als „Emanzipation zweiter Ordnung“ analysiert, in deren Zuge BürgerInnen aus der „selbstverschuldeten Selbstüberforderung“ (bürgerliche Moderne) ausziehen und sich, mehr und mehr KonsumentIn geworden, ganz bewusst lieber auf politische Eliten und deren professionelle Problemlöser statt auf die kontinuierlich neu auszuhandelnde Vernunft des Souveräns verlassen. Eine kritische Rezension dazu verfasste Claudia Ritzi in der Zeitschrift für politische Theorie.

Ingolfur Blühdorn (2013). Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Berlin

Claudia Ritzi (2014) : Der (un-)mündige Bürger und die Postdemokratie. In: Zeitschrift für politische Theorie. Jg 5, Nr.1. http://www.budrich-journals.de/index.php/zpth/article/view/16658/14547

Mit dem Thema Komplexität und Demokratie setzt sich auch Beat Ringger im Text Die Demokratie und das Gesetz der optimalen Komplexität auseinander. Ringger fordert, dass die Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse nicht einfach als naturwüchsige Kategorie verstanden, sondern als gestaltbar konzipiert werden muss. Zudem können Komplexitäten nicht beliebig anwachsen, ohne destabilisierend zu wirken. Demokratie beschreibt Ringger als diejenige gesellschaftliche Praxis, die allen andern Gestaltungsverfahren überlegen ist gerade durch ihr Potential zur Bewältigung von Komplexität, insofern es ihr gelinge, die Beteiligten und die Betroffenen mit all ihren Ressourcen optimal in die Gestaltungsprozesse einzubeziehen.

http://www.denknetz-online.ch//IMG/pdf/Ringger_GOK.pdf

3. Aktuelle Befunde zur (Post-)Demokratie

Alex Demirovic legt in seinem Text ‚Multiple Krise, autoritäre Demokratie und radikaldemokratische Erneuerung‘ eine Diskursanalyse zu den aktuellen Demokratiedebatten vor, wobei er diese Diskurse selbst als Moment der Demokratie als ‚sozialer Praxis‘ begreift. Die Diskursanalyse ist demnach ein valabler Zugang zur Frage nach den aktuellen demokratiepolitischen Entwicklungen. Der Text empfiehlt sich als Einstieg in und Übersicht über einige wichtige aktuelle Debatten.

Alex Demirowic. Multiple Krise, autoritäre Demokratie und radikaldemokratische Erneuerung. In Prokla 171, Juni 2013: http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2013/demirovic.pdf

Colin Crouch hat mit seinem Buch ‚Postdemokratie‘ (2008) den gleichlautenden Begriff kreiert, der seither die Diskussionen um aktuelle Demokratie-Befunde prägt. Crouch’s Diagnose: Erstens können Multinationale Konzerne der Souveränität der Nationalstaaten immer stärker entkommen. Zweitens fällt es sozio-ökonomisch schwachen Gruppen immer schwerer, „für sich selber eine politische Agenda zu definieren“, wodurch eine „unausgewogene Demokratie“ mit „asymetrischen Klassenstrukturen“ entsteht. Drittens entfremden sich die politischen Akteure (z.B. die Parteien) immer mehr ihrer Basis, der Bevölkerung, was zu einer Delegitimierung demokratischer Institutionen führt.

Colin Crouch (2008). Postdemokratie. Berlin

Zusammenfassendes Essay von Colin Crouch: http://www.frankfurter-hefte.de/upload/Archiv/2008/Heft_04/NGFH_April_08_Archiv_Crouch.pdf

Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Postdemokratie

Auch Stefanie Wöhl diagnostiziert eine eigentliche Krise der parlamentarischen Demokratie in Europa, deren Entwicklung mit den ökonomisch-gesellscahftlichen Veränderungen nicht Schritt gehalten habe. Sie stelle in ihrer jetzigen Form keine genügende Repräsentation der verschiedenen Bevölkerungsschichten mehr sicher, könne nur noch in verminderter Form die umfassende sozio-ökonomische Existenzsicherung gewährleisten, verkomme zusehends zu einer von „Sachzwängen“ bestimmten Expertokratie mit einer deutlichen Verschiebung der Entscheidungsbefugnisse hin zu den Exeskutiven.

Stefanie Wöhl (2015). Die „Krise“ der repräsentativen Demokratie in Europa. In: Denknetz-Jahrbuch 2015

Viele der von Crouch und Wöhl beschriebenen Tendenzen sind in den letzten Jahrzehnten x-fach beschrieben und kritisiert worden, und diese Tendenzen wirken nach wie vor weiter respektive werden von neoliberaler Seite vorangetrieben. Stefan Giger beschreibt die Wirkmacht multinationaler Handelsabkommen am Beispiel von TISA (dem Trade in Services Agreement), das gegenwärtig verhandelt wird. Noch sind viele öffentliche Einrichtungen und Dienste demokratisch institutionell einigermassen abgesichert und gestaltbar. Mit TISA droht ein antidemokratischer Putsch gegen solche Regulierungen.

Stefan Giger (2015). Die Abschaffung der Demokratie. In: Denknetz-Jahrbuch 2015

Auch in der nationalstaatlichen Binnenpolitik wird die demokratieaverse neoliberale Agenda weiter und weiter getrieben, wie Pit Wuhrer für Grossbritannien nachzeichnet. Gemeindeverwaltungen werden radikal privatisiert, so dass z.B. die Beschwerde gegen ein dörfliches Überbauungsprojekt in einer hunderte Kilometer entfernten Zentrale eines Dienstleistungskonzerns bearbeitet wird, der weder über die Kenntnisse noch über die Ressourcen verfügt, der Sache auf den Grund zu gehen.

Pit Wuhrer (2015). Wie ein Staat verschwindet. In: Denknetz-Jahrbuch 2015

Die Ausführungen von Crouch sind vielfach zitiert und oft auch kritisiert worden. In seiner Rezension etwa wendet sich Christoph Hubatschke gegen die Vorstellung, dass die Systeme der 60er und 70er Jahre ‚Augenblicke der Demokratie‘ gewesen seien. Crouch‘s Festhalten an den alten Parteiapparaten und an einem keynesianischen Kapitalismus verhindere vielmehr eine effektive Debatte in Richtung einer fortschrittlichen Veränderung der Gesellschaft.

Christoph Hubatschke (2013). Colin Crouch — Postdemokratie. Online veröffentlicht auf: http://www.diebresche.org/colin-crouch-postdemokratie/

Einen ähnlichen Einwand erhebt Jakob Tanner in seiner Abschiedsvorlesung vom 29.5.2015 an der Universität Zürich, wobei sich Tanner explizit auf die Diskussion in der Schweiz bezieht. Auf die Frage, ob sich die Schweiz auf dem Weg von der Volkssouveränität zur Postdemokratie befände, führt Tanner an, es sei irreführend davon auszugehen, dass es bisher eine komplette Volkssouveränität gegeben habe, die nun heute durch Einflüsse von aussen einer Schrumpfung ausgesetzt sei. Vielmehr gelte es ebenso sehr darum, «in umgekehrter Richtung über die systematischen Beschränkungen der Volkssouveränität im nationalstaatlichen Rahmen nachzudenken.»

Jakob Tanner (2015). Von der Volkssouveränität zur Postdemokratie? Zur transnationalen Geschichte von Nationalstaaten. Abschiedsvorlesung: http://www.denknetz.ch/sites/default/files/abschiedsvorlesung_jakob_tanner_29_mai_2015.pdf

Chantal Mouffe betont in deutlicher Absetzung von Crouch, dass der Prozess der Postdemokratisierung sehr wohl umkehrbar sei. Er hänge nämlich stark damit zusammen, dass die Sozialdemokratie sich in den letzten Jahrzehnten in die politische Mitte bewegt und sich der neoliberalen Agenda dabei weitgehend unterworfen hätte. Dadurch seien Alternativen zur dominierenden Politik aus dem Spiel genommen worden, was zu entsprechender Politikverdrossenheit geführt habe. Mouffe plädiert für eine erneuerte Linke, die dem Neoliberalismus entgegentrete, ein eigenes antihegemoniales Projekt verfolge und sich auch nicht vom Vorwurf des Populismus abschrecken lasse, der heute vom Mainstream gegen alle Kräfte erhoben wird, die sich nicht ins neoliberale Credo einfügen. Mouffe kommt damit das Verdienst zu, in der Debatte um Postdemokratie das politische Subjekt an zentraler Stelle wieder einzuführen.

Chantal Mouffe (2015). „Postdemokratie“ und die zunehmende Entpolitisierung. In: Denknetz-Jahrbuch 2015

Die These von der Schwächung der nationalstaatlich verankerten Demokratie ist häufig begleitet durch die These von der Schwächung der Nationalstaaten als solchen. John Kannankulam widerspricht in seinem Artikel ‚Neoliberalismus und Staat: Rückzug oder autoritäre Transformation?‘ dieser Gleichsetzung und konstatiert die Aufwertung jener Teile der Staatsapparate, die eng mit dem Weltmarkt gekoppelt sind (Aussen- und Finanzministerien, Nationalbanken), oder die der Überwachung und Repression dienen. Allerdings würden solche Verlagerungsprozesse keineswegs widerspruchsfrei verlaufen und könnten selbst Motor von krisenhaften Prozessen werden.

John Kannankulam (2015).‚Neoliberalismus und Staat: Rückzug oder autoritäre Transformation? In: Denknetz-Jahrbuch 2015

In dem Text ‚Autoriärer Etatismus und Populismus der neuen Mitte‘ tritt Kannankulam zudem der Vorstellung entgegen, der Nährboden für den rechten Populismus sei erst durch die Globalisierung entstanden, die neue Verliererschichten geschaffen habe. Die gegenwärtigen autoritären und populistischen Tendenzen seien vielmehr schon im Fordismus angelegt, der Rechtspopulismus habe seit je als rechte Hand des bürgerlichen Lagers fungiert.

John Kannankulam (2007). Autoriärer Etatismus und Populismus der neuen Mitte. Veröffentlicht auf links-netz. http://www.links-netz.de/K_texte/K_kannankulam_etatismus.html

Bernhard Walpen und Beat Ringger machen auf eine verdeckte und bisher wenig thematisierte Dimension neoliberaler Politik aufmerksam, diejenige einer umfassenden und teilweise massiven Bürokratisierung im Zuge der Kommodifizierung vieler Dienstleistungen (Gesundheitswesen, Bildung, Administration, soziale Dienste). So weist das US-Gesundheitswesen, das wie kein anderes der Kapitalverwertung ausgesetzt ist, im Vergleich zu andern Ländern doppelt bis dreifach so hohe administrative Kosten aus. Solche bürokratischen Apparate verstopfen die Möglichkeiten demokratischer Einflussnahme. Problematisch ist die damit verbundene Entpolitisierung, und problematisch sind diverse technokratische Praxen (z.B. unter dem Label ‚Qualitätssicherung‘), bei denen gerade auch linke und linksliberale Kräfte oft unkritisch mitwirken.

Bernhard Walpen, Beat Ringger (2015). Neoliberale Bürokratie. In: Denknetz-Jahrbuch 2015

Ein weiterer Diskursstrang betrifft die Frage, ob sich ein Ablöseprozess abspiele, bei dem neue Formen der nicht-nationalstaatlichen, transnationalen und globalen Demokratie herausbilden. Seyla Benhabib konstatiert, dass sich auf globaler Ebene ein zunehmender Prozess der ‚Jurisgenerativity‘ – der Rechtserzeugung durch Recht – entwickle, basierend z.B. auf den Menschenrechten. Rechtsnormen würden dabei in ‚demokratischen Iterationen‘ Eingang finden in die alltägliche Rechtssprechung der Staaten. Daraus ergäben sich Ansätze zu einer kosmopolitischen Demokratie. Allerdings konstatiert Behnhabib gleichzeitig stattfindende Prozesse der Konstitutionalisierung und der Entrechtlichung in der Weltgesellschaft.

Seyla Benhabib (2008). Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte mit Bonnie Honig, Will Kymlicka und Jeremy Waldron. Herausgegeben von Robert Post. Frankfurt

Essay: Unterwegs zu einer kosmopolitischen Demokratie? NZZ vom 13.6.2009. http://www.nzz.ch/unterwegs-zu-einer-kosmopolitischen-demokratie-1.2730516

Saskia Sassen fragt danach, inwiefern die „Sprengung der nationalen Ebene als Gehäuse Sozialer Prozesse und Macht“ Möglichkeiten für eine neue Geographie des Politischen eröffnet. Sie verortet Prozesse der Entnationalisierung insbesondere in den globalen Städten. „Die Benachteiligten in «Global Cities» können «Präsenz» gewinnen sowohl durch ihre Auseinandersetzung mit Macht wie auch dadurch, dass sie sich gegenseitig wahrnehmen können.“Daraus können sich Ansätze einer Citizenship in der Gobal City ergeben mit den entsprechenden Resonanz.- und Handlungsfeldern.

Saskia Sassen. Neue politische Räume und Subjekte. In Olympe 25/26 2007, S. 82 ff http://www.frauenarchivostschweiz.ch/_f/olympe/olympe_25_26.pdf

In Debatten um demokratische Transformationsprozesse taucht immer wieder der Begriff der Governance auf. Der entsprechende Eintrag auf Wikipedia gibt dazu einen guten Überblick.

https://de.wikipedia.org/wiki/Governance

Kritisch mit den Governance-Konzepten setzen sich die AutorInnen eines Sammelbandes auseinander, der von Alex Demirovic und Heike Walk herausgegeben worden ist.

Alex Demirovic und Heike Walk (2011). Kritische Perspektiven auf neue Formen politischer Herrschaft. Münster.
http://www.dampfboot-verlag.de/shop/artikel/demokratie-und-governance

Ein weiterer Begriff, der zunehmend ebenfalls kontrovers diskutiert wird ist derjenige der Partizipation. Der konservative deutsche Philosoph Otfried Höffe plädiert für eine Stärkung der Partizipationsmöglichkeiten in Richtung einer Bürgergesellschaft. Thomas Wagner im Gegenzug deckt auf, in welcher Weise Partizipation und partizipative Demokratie heute durch eine von „privatwirtschaftlichen Interessen verpflichteten Beteiligungsindustrie betriebenen Partizipationssimulation“ unterlaufen und pervertiert wird. Dem setzt er das Beharren darauf, dass es Klassenkonflikte gibt, als „ersten Schritt im Kampf um echte Demokratie entgegen.

Otfried Höffe (2009). Ist die Demokratie zukunftsfähig? München

Thomas Wagner. Bürgerprotest in der Mitmachfalle. In PROKLA 171, Juni 2013

Eine viel beachtete Debatte, in der die Analyse eng mit der Frage der Perspektiven verbunden ist, hat Wolfgang Streeck mit seinem Buch ‚Gekaufte Zeit‘ ausgelöst. Streeck geht davon aus, dass es in der Nachkriegszeit in den reichen Nationen gelungen sei, Demokratie und Kapitalismus zu verbinden, dass jedoch seither beides auseinanderdrifte. Drei Mal hätten die Regierungen den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit seit den 1970er Jahren durch Einsatz monetärer Instrumente zu entschärfen versucht und sich damit Aufschub-Zeit gekauft: Das erste Mal durch eine inflationäre Geldpolitik, das zweite Mal durch die Verschuldung des Staates, das dritte Mal durch die Ankurbelung privater Verschuldung und die Liberalisierung aller Märkte. Dadurch seien aber die Staaten in hohe Abhängigkeit von den Kapitalmärkten geraten. In Europa sei demokratische Handlungsfähigkeit nur durch den Rückbau der Währungsunion und durch die Stärkung des nationalstaatlichen Rahmens zu erreichen. Denn eine Demokratisierung auf gesamteuropäischen Ebene müsse aus vier Gründen scheitern: Unterentwickelte Regionen liessen sich nicht von oben herab entwickeln, ‚unvollendete Nationalstaaten‘ (wie Belgien oder Spanien) liessen sich nicht einbinden, eine Nivellierung der Lebensformen sei unterwünscht, und eine Zentralisierung der Macht in Europa würde Minderheitskulturen bedrohen.

Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Eine Zusammenfassung des Buches findet sich unter http://www.rat-kontrapunkt.ch/manifeste-und-debatten/kontrapunkt-debatten/zusammenfassung-von-wolfgang-streecks-studie-die-gekaufte-zeit-die-vertagte-krise-des-demokratischen-kapitalismus/

Es ist vor allem diese Absage an die Währungsunion, die Widerspruch hervorgerufen hat, u.a. Jürgen Habermas hält die Demokratisierung Europas für zwingend erforderlich und fordert dafür erstens eine gesamteuropäische Rahmenplanung mit wechselseitiger Haftung der Mitgliedstaaten sowie die paritätische Beteiligung des Europaparlamentes an der Gesetzgebung. Habermas entkräftet die skeptischen Argumente von Steeck, betont aber seinerseits die Gefahr, die darin besteht, ‚Geber‘- und ‚Nehmer’länder nationalistisch gegeneinander aufzuwiegeln. Die europäische Linke sei dabei, vor der rechtspopulistischen Mitte einzuknicken und wiederhole damit den historischen Fehler von 1914.

Jürgen Habermas (2013). Demokratie oder Kapitalismus? Vom Elend der nationalstaatlichen Fragmentierung in einer kapitalistisch integrierten Weltgesellschaft.  In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2013

In seiner Replik auf Habermas betont Streeck, dass es ihm nicht um eine Schwächung des europäischen Integrationsprozesses gehe. Vielmehr sei die Währungsunion ein Programm zur neoliberalen Zwangsvereinheitlichung. Er wirft Habermas vor, die von ihm geforderte politische Integration sei angesichts der realen Gegebenheiten illusorisch. Man müsse die Frage nach der Zukunft des Kapitalismus stellen, wenn man die Frage nach der Zukunft der Demokratie beantworten wolle. Solange die Macht faktisch bei den Nationalbanken und der privaten Geldindustrie liege, bleibe europäische Demokratie Fassadendemokratie. Den wesentlichen Widerstandsrahmen gegen die Macht der Finanzmärkte ortet Streeck nach wie vor in den nationalen Staaten.

Wolfgang Streeck (2013). Vom DM-Nationalismus zum Euro-Patriotismus? Eine Replik auf Jürgen Habermas. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2013

Alex Demirovic vermisst in seiner Rezension zu Streecks Buch eine kritische Selbstreflexion Streecks, stand dieser doch jahrelang beratend der Schröder-Regierung bei ihrer Agenda-Politik zur Seite. Nun diagnostiziere Streeck ein Scheitern der sozialdemokratischen Versuche, Kapitalismus und Demokratie auf einer gemeinsamen Spur zu halten, ohne dies auch deutlich und selbstkritisch so zu benennen. Zwar fordere Steeck in seiner Gegenrede zu Habermas zu Recht ein, den Kapitalismus selbst zum Thema zu machen. Streeck analysiere den Krisenverlauf dann allerdings unter Ausblendung der endogenen Krisenanfälligkeit des Kapitalismus, z.B. in der Form der Überakkumulation von Kapital. Statt die Frage zu stellen, wie denn der Kapitalismus überwunden werden könne, lande Streeck bei Vorschlägen, die Demirovic als ‚nostalgisch, restaurativ, utopisch‘ charakterisiert. Am Schluss bliebe als Programmatik einzig die Wiedereinführung nationaler Währungen.

Alex Demirovic (2013). Keine Zeit mehr. Das Ende des sozialdemokratischen Projekts. In Prokla 171, Juni 2013

Ebenfalls auf die Auflösung der Währungsunion zielt der Plan B für Europa, der im September 2015 von Yanis Varoufakis, Oskar Lafontaine, Jean-Luc Mélenchon (französische Linksfront), Stefano Fassina (ehem. Stellvertretender italienischer Finanzminister) und der ehemaligen griechischen Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou lanciert worden ist. Plan A wäre demnach die soziale und demokratische Erneuerung Europas und das Ende der Austertitätspolitik, Plan B der Ausstieg aus der Währungsunion. Die UnterzeichnerInnen des Textes schlagen eine zeitnahe internationale Konferenz zu einem Plan B vor, der zumindest als Druckmittel für Plan A konkretisiert werden müsse.

Janis Varoufakis, Oskar Lafontaine, Jean-Luc Mélenchon, Stefano Fassina,Zoe Konstantopoulou (Sept 2015). Für einen Plan B in Europa. https://griechenlandsoli.files.wordpress.com/2015/09/mc3a9lenchon-varoufakis-lafonatine-et-al-plan-b.pdf

Der Ausstieg aus der Währungsunion wird auf linker Seite schon länger äusserst kontorvers diskutiert. BefürworterInnen wie etwa auch dem ehemaligen UNCTAD-Chefökonomen Heiner Flassbeck steht eine Vielzahl von KritikerInnen gegenüber, z.B. Elmar Altvater. Sie befürchten unter anderem, dass sich die Wiedereinführung nationaler Währungen als neue Form eines massiven Angriffs auf Löhne und Renten entpuppen könnte. Die Debatte Flassbeck-Altvater wurde in der WOZ schon 2012 geführt.

Heiner Flassbeck (2012). Endgültig: Trennt Euch. https://www.woz.ch/1236/eurokrise/endgueltig-trennt-euch

Elmar Altvater (2012). Getrennt lässt sich Europa nicht retten. https://www.woz.ch/-316b

Roland Herzog unternimmt den Versuch, auf struktureller Ebene zu beschreiben, wie ein fortschrittlicher Demokratisierungsprozess auf europäischer Ebene aussehen könnte, und entwirft das Konzept einer föderalen Republik Europa, das er der Vorstellung der Vereinigten Staaten von Europa entgegenstellt.

Roland Herzog (2015). Föderale Republik Europa. In: Denknetz-Jahrbuch 2015

4. Direkte (plebiszitäre) Demokratie, Demos oder Ethnos, Menschenrechte

In vielen Ländern Europas wird seit geraumer Zeit die Einführung respektive Stärkung der direkten Demokratie gefordert. Viele Jahre lang blieb dies überwiegend ein Anliegen von sozial und ökologisch Bewegten und linken Organisationen. Neuerdings allerdings wird die Forderung in lauter Tonlage auch von rechts und ganz rechts erhoben. Ein Bespiel dafür ist die nationalkonservative Alternative für Deutschland AfD, die in ihrem Wahlprogramm 2013 „eine Stärkung der Demokratie und der demokratischen Bürgerrechte“ fordert , u.a. „Volksabstimmungen und Initiativen nach Schweizer Vorbild“. Als Inspiration dient die SVP, seit sie mit kulturalistischen, fremdenfeindlichen und nationalkonservativen Volksinitiativen Erfolge feiert (Minarett-Verbot, Flüchtlingspolitik, Ausweisungsinitiative, Masseneinwanderungs-Initiative). Dabei kollidieren fundamental verschiedene Demokratie-Konzepte: Dem Demos (z.B. der erwachsenen Bevölkerung einer Gebietskörperschaft oder der Mitgliedschaft eines Vereins) wird ein Ethnos (das ethisch-kulturell identitäre „Volk“) entgegengesetzt. Zumindest implizit wird dabei das Gedankengut des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt wiederbelebt, der den Nationalsozialismus staatsrechtlich legitimierte.

Wahlprogramm der Alternative für Deutschland AfD: http://www.alternativefuer.de/programm-hintergrund/programmatik/

Zur Person und zum Werk von Carl Schmitt: https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Schmitt

Zur Demokratie-Argumentation der SVP siehe das Positionspapier ‚Schweizer Recht vor fremdem, internationalem Recht‘: https://www.svp.ch/tasks/render/file/?method=inline&fileID=356F7DCC-E27E-47CC-B0A819FD1E05D21F

Sowie das Positionspapier zur ‚Volksinitiative zur Umsetzung von Volksentscheiden – Schweizer Recht geht fremdem Recht vor‘: https://www.svp.ch/tasks/render/file/?method=inline&fileID=02A25600-F8CB-4351-8A11F914D939EFD6

In Deutschland hat die Forderung nach direkter Demokratie etliche Bewegungen beflügelt und zur Bildung von Bürgerinitiativen geführt, namentlich des Vereins ‚Mehr Demokratie‘ .
Wie schillernd die Forderung nach direkter Demokratie werden kann zeigt das Beispiel der Opposition zum Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM (Teil des Euro-Rettungsschirms zur Finanzierung der ‚Rettungsprogramme‘ seit 2010) . Der ESM wurde von links bis ganz rechts mit unterschiedlichen Argumenten scharf kritisiert. Beide Seiten trafen sich in der Verfassungsbeschwerde gegen den ESM.

http://www.mehr-demokratie.de

http://verfassungsbeschwerde.eu/home.html

http://www.verfassungsbeschwerde.eu/die-unterstuetzer.html

Holger Oppenhäuser untersucht diese Gemengenlage zu Fragen direkter Demokratie in Deutschland, die Grundlagen des Rechtspopulismus und dessen nationalistische, ökonomische, demokratiepolitische und Anti-EU-Erzählungen. Diskurse und Praxen der direkten Demokratie werden als ein Kampffeld gelesen, wobei eine Ausweitung der plebiszitären Demokratie trotz allen Ambivalenzen „grundsätzlich zu begrüssen“ sei.

Holger Oppenhäuser. Demokratische Querfronten? Der neue Rechtspopulismus und die Ambivalenzen der direkten Demokratie. In Prokla 171, Juni 13

Die Erfolge, die die SVP mit Hilfe der direktdemokratischen Instrumente erzielt, weckt auf liberaler und linker Seite zunehmend Skepsis und Widerstände, z.B. beim linksfreisinnigen Historiker Georg Kreis.

Georg Kreis (2014). «Haben Sie schon unterschrieben?» – der schwierige Umgang mit Volksinitiativen. In: Tages-Woche vom 28.8.2014. http://www.tageswoche.ch/de/2014_35/schweiz/666727/#

Auf linker Seite wird die Forderung nach einem Schweizer Verfassungsgericht erhoben, etwa im aktuell gültigen Parteiprogramm der SPS von 2010. Ein Verfassungsgericht wäre dann u.a. auch für die völkerrechtliche Beurteilung von Volksinitiativen zuständig. Allerdings gibt es dazu auch warnende Stimmen, etwa den SGB-Präsidenten und SP-Ständerat Paul Rechsteiner, der 2012 mit der bürgerlichen Mehrheit gegen die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit stimmte.

Weshalb Paul Rechsteiner mit den Rechten stimmte: https://www.woz.ch/-2e61

Zur Diskussion über Volkssouveränität und Völkerrecht bieten Philipp Zimmermann und Esther Meier eine gute rechtspolitische Einführung. Auf der Site www.humanrights.ch findet sich unter dem Titel ‚Direkte Demokratie – Grundrechte – Menschenrechte‘ ebenfalls ein Text, der in die Problematik einführt. Eine ausführliche Studie mit dem Titel ‚Schweizer Recht bricht Völkerrecht?‘ haben Walter Kälin und Stefan Schlegel im Auftrag des Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) im April 2014 vorgelegt. Sie geht auf die Frage ein, ‚von welcher Entwicklung in der Beziehung zwischen der Schweiz und dem Europarat auszugehen wäre, wenn in der Schweiz Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nur noch selektiv umgesetzt würden. Die Studie kommt zum Schluss, dass eine Mitgliedschaft der Schweiz im Europarat nicht mehr tragfähig wäre.

Philipp Zimmermann, Esther Meier (2014). Volkssouveränität und Völkerrecht: Ein Widerspruch? In: Europa-Magazin 2/14. http://www.europa-magazin.ch/europamagazin/Aktuell/Dossiers-Themenfokus/Demokratie/64/cmd.14/audience.D

Walter Kälin, Stefan Schlegel (2014).Schweizer Recht bricht Völkerrecht? http://www.humanrights.ch/de/service/wegweiser/direkte-demokratie-grundrechte/?search=1

5. Wirtschaftsdemokratie

Ralf Hoffrogge gibt einen knappen Überblick über die ideengeschichtliche Abfolge von Demokratiekonzepten, die sich ausdrücklich (auch) auf die ökonomische Sphäre beziehen: Von den genossenschaftlichen Ansätzen des 19.Jhdts über die Rätedemokratie und Konzepten unter dem Titel ‚Wirtschaftsdemokratie‘ bis hin zur Mitbestimmung.

Ralf Hoffrogge (2011). Vom Sozialismus zur Wirtschaftsdemokratie? Ein kurzer Abriss über Ideen ökonomischer Demokratie in der deutschen Arbeiterbewegung. In: Marcel Bois/Bernd Hüttner (Hg.). Geschichte einer pluralen Linken.  Band 3, Berlin 2011

http://www.workerscontrol.net/de/system/files/docs/German-Germany-Early20thCentury-Hoffrogge-Wirtschaftsdemokratie.pdf

Fritz Naphtali gilt als Vater des Begriffs der Wirtschaftsdemokratie. Sein Buch, das den Rang eines Grundlagenwerkes einnimmt, präsentiert die Ergebnisse, die eine von Naphtali geleitete Kommission 1928 im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) erarbeitete.

Fritz Naphtali (1977): Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel. Köln/Frankfurt aM.

Fritz Vilmar gibt am Übergang zum neuen Jahrtausend einen Überblick über die wirtschaftsdemokratische Debatte seit den 1960er Jahren v.a. im deutschsprachigen Raum. Gleichzeitig schafft er analytische Klarheit darüber, was Wirtschaftsdemokratie auf unterschiedlichen Ebenen konkret bedeutet resp. bedeuten könnte. Von ihm stammt die folgende Definition: „Wirtschaftsdemokratie ist der Inbegriff aller ökonomischen Strukturen und Verfahren, durch die an die Stelle autokratischer Entscheidungen demokratische treten, die durch die Partizipation der ökonomisch Betroffenen und/oder des demokratischen Staates legitimiert sind.“

Fritz Vilmar (1999): Wirtschaftsdemokratie – Zielbegriff einer alternativen Wirtschaftspolitik. Kritische Bilanz und Aktualität nach 40 Jahren. http://www.memo.uni-bremen.de/docs/m3206.pdf

Christian Zeller untersucht die Vorschläge für eine Demokratisierung der Wirtschaft und das Konzept der Arbeiterkontrolle in Bezug auf ihr Potenzial für eine umfassende gesellschaftliche Aneignung der Produktion und Reproduktion, d.h. ihre demokratische Ausgestaltung. Zeller diskutiert diese Frage im Hinblick öffentliche Dienste und soziale Infrastrukturen, Arbeitsbedingungen, Natur, Investitionen und Technologien, Finanzsektor, Planung und Institutionen.

Christian Zeller (2010). Wirtschaftsdemokratie und gesellschaftliche Aneignung. Demokratisierung durch gesellschaftliches Eigentum und partizipative Planung. In: SoZ September 2010. http://www.workerscontrol.net/de/system/files/docs/german-Germany-60stopresent-Zeller-Wirtschaftsdemokratie.pdf

Unmittelbar nach der Pleite von Lehman Brothers im Herbst 2008 bejaht Michael Krätke die Frage, ob Finanzmärkte demokratisch kontrollierbar sind, und stellt seine Überlegungen in den Kontext einer demokratischen Gesellschaft, die über den Kapitalismus hinausweist. Er diskutiert dabei insbesondere die Voraussetzungen für eine funktionierende Wirtschaftsdemokratie.

Michael R. Krätke (2008): Eine andere Demokratie für eine andere Wirtschaft. Wirtschaftsdemokratie und Kontrolle der Finanzmärkte. In: Widerspruch, No. 55, pp. 5-16.

6. Radikale Demokratie, Perspektiven

Pascal Zwicky plädiert dafür, „Mehr Demokratie“ als Kern eines gegenhegemonialen gesamtgesellschaftlichen Projekts der Linken zu konzipieren. Roland Herzog, Beat Ringger und Pascal Zwicky unternehmen unter dem Titel ‚Demokratie als Notwendigkeit und Programm‘ den Versuch, die Grundzüge einer umfassenden demokratiepolitischen Programmatik zu skizzieren. Eine zentrale Aussage des Textes lautet: Wir leben in einer Protodemokratie, die auf dem Weg zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft weiterentwickelt werden muss; damit wird auch die Überwindung des Kapitalismus zum Thema. Der Text schlägt den Bogen zu aktuellen Fragestellungen wie z.B. der Migrationspolitik, der halbdirekten Demokratie und dem Verhältnis der Schweiz zu Europa. Er dient als Einstiegstext in den Demokratiezyklus, den das Denknetz im Sommer 2015 eröffnet hat.

Pascal Zwicky /2015). „Mehr Demokratie“ als Ausweg aus der multiplen Krise. In: Denknetz-Jahrbuch 2015

Roland Herzog, Beat Ringger, Pascal Zwicky (2015). Demokratie als Notwendigkeit und Programm. In: Denknetz-Jahrbuch 2015

Stefan Howald bietet in seinem Buch ‚Volkes Wille‘, eine breite, mit praktischen Beispielen angereicherte Übersicht zu historischen Entwicklungen und aktuellen Debatten rund um das Thema Demokratie. Neben einem stärker analytischen Teil, in dem vor allem auch Probleme der realexistierenden Demokratie (in der Schweiz und weltweit) angesprochen werden, plädiert Howald in den Schlussfolgerungen für eine Ausweitung und Vertiefung der Demokratie und skizziert zentrale politische Handlungsfelder für die Linke.

Stefan Howald (2014). Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen. Zürich

Marc Fleurbaey legt dar, weshalb die Rede von der gegenseitigen Befruchtung und Abhängigkeit von kapitalistischer Wirtschaft und Demokratie ein Mythos ist. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts sieht er vielmehr darin, eine die Gesellschaft als Ganzes umfassende Demokratie gegen den Kapitalismus durchzusetzen.

Marc Fleurbaey (2006). Capitalisme ou Démocratie. L’Alternative du XXIe Siècle. Paris

Die Sozialdemokratische Partei der Schweiz gab sich 2010 ein neues Parteiprogramm mit dem Titel ‚Für eine sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie‘. Darin ist unter anderem von der Überwindung des Kapitalismus die Rede, was zu einigem Aufsehen und auch zu Distanzierungsversuchen aus den Reihen der SP führte. Willy Spieler, SP-Mitglied und seit Jahrzehnten mit dem Thema Wirtschaftsdemokratie beschäftigt, untersucht in seinem Artikel das SP-Programm auf Potentiale und Widersprüche.

SP-Parteiprogramm: http://www.sp-ps.ch/sites/default/files/documents/sp-parteiprogramm_definitiv-de_0.pdf

Willy Spieler (2011). Sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie, Visionen und Widersprüche im Parteiprogramm der SP Schweiz, in: Widerspruch Heft 60, Zürich

In den 1970er Jahren wurde die Debatte um die Weiterentwickelung der Demokratie durch Konzepte der Selbstverwaltung (Autogestion) belebt, inbesondere in Frankreich. Konkrete Erfahrungen (z.B. die legendären Betriebsbesetzungen der Uhrenfabrik Lip 1973 und nochmals 1976) befeuerten ein Konzept einer Ökonomie, die auf selbstorganisierten Betrieben aufbaut. Das Konzept hatte seine Wurzeln aber auch in linken Strömungen, die sich der Stalinisierung widersetzten, z.B. in der Gruppe Sozialismus oder Barbarei. Klaus Ronneberger zeichnet diese Auseinandersetzungen anhand der Beiträge des französischen Marxisten Henri Lefebvre zur Debatte um die Selbstverwaltung nach.

Klaus Ronneberger (2010). Die Frage der Autogestion. Henri Lefebvre, Selbstverwaltung und Partizipation. In: Analyse 6 Kritik Nr. 550, Mai 2010: http://www.workerscontrol.net/de/system/files/docs/Ronneberger_Lefebvre.pdf

Zur Betriebsbesetzung bei LIP: https://de.wikipedia.org/wiki/Lip_(Uhrenhersteller)

Ausgehend von der Analyse eines „Versagens der liberalen Demokratie“ setzt sich Alex Demirovic vertieft und kritisch mit der Räterepublik resp. Rätedemokratie als einer Alternative zur kapitalistischen Vergesellschaftung auseinander. Als einer der Schwachpunkte der bisherigen Überlegungen zu und Erfahrungen mit rätedemokratischen Strukturen wird insbesondere die Frage der Koordination zwischen den unterschiedlichen Ebenen (vom einzelnen Betrieb bis zur Weltgesellschaft) identifiziert.

Alex Demirović (2009). Rätedemokratie oder das Ende der Politik. In: PROKLA 39 http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2009/07/demirovic.pdf

Karl Marx sah in der Pariser Kommune von 1870 die „endlich entdeckte Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen kann“. Dario Azzellini und Immanuel Ness (Hrsg) nehmen mit ihrem Sammelband darauf Bezug. In diversen Beiträgen untersuchen die AutorInnen den theoretischen Rahmen von Arbeiterkontrolle und Arbeiterräten. Vor allem aber werden von diversen AutorInnen 18 historische Beispiele erläutert und analysiert.

Dario Azzellini/Immanuel Ness (2012). „Die endlich entdeckte politische Form“. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute. Köln/Karlsruhe

„Buen vivir“ ist ein zentrales Prinzip in der Weltanschauung der Völker des Andenraums und geniesst in Bolivien und Ecuador Verfassungsrang. Buen vivir bedeutet weit mehr als individuelle Lebensqualität, es kann als „Zusammenleben in Vielfalt und Harmonie mit der Natur“ verstanden werden. Der Fragen einer umfassenden Demokratie und der gesellschaftlichen Teilhabe kommt dabei eine wesentliche Bedeutung zu. Alberto Acosta, 2007/08 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und 2007 Minister für Energie und Bergbau, führt in das Konzept von Buen vivir ein, zeichnet den Prozess der politisch-rechtlichen Institutionalisierung nach und versucht vor allem auch Brücken zwischen dem indigenen Denken und dem westlich-rationalistischen Entwicklungsparadigma zu schlagen.

Alberto Acosta (2015). Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben. München

Inspiriert und motiviert durch die weltweiten Massenproteste ab 2011 haben Micheal Hardt und Antonio Negri das Büchlein „Demokratie!“ verfasst. Sie betonen darin die Kraft der Vielen, der – etwas ominösen – „Multitude“, die anders als bisherige Bewegungen (z.B. die organisierte Arbeiterschaft) funktioniert und deren Verzicht auf klare Hierarchien und Ziele richtig und Voraussetzung für den Erfolg sei. Ist die Multitude das revolutionäre Subjekt, sind die Commons, Gemeingüter, die Objekte demokratischer Entscheidungen. Neue, an die gesellschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts angepasste Modelle von Rätedemokratien und eine damit zusammenhängende Reform der klassischen Gewaltenteilung sind bei Hardt/Negri Voraussetzungen für eine wirkliche Demokratie.

Michael Hardt,  Antonio Negri (2013). Demokratie! Wofür wir kämpfen. Frankfurt/Main

PDF

Du kannst den Denknetz Diskurs zur (Post)Demokratie hier als PDF zum Ausdrucken herunterladen.

Übersicht

Editorial

1. Grundlagen, Übersichten: Staat und Demokratie

2. Bürgerliche (Proto)Demokratie: Grundlegende Kritik

2.1 Bürgerliche Demokratie als Herrschaftsform

2.2. Feministische Demokratiekritik

2.3. Demokratie und Komplexität

3. Aktuelle Befunde zur (Post-)Demokratie

4. Direkte (plebiszitäre) Demokratie, Demos oder Ethnos, Menschenrechte

5. Wirtschaftsdemokratie

6. Radikale Demokratie, Perspektiven

Dokumentation

Vom 2. bis 4. 2017 Februar fand der Kongress Reclaim Democracy an der Universität Basel statt. 1800 Personen nahmen daran teil. Gut 25 der über 50 Ateliers stellen Dokumentations-Unterlagen zur Verfügung.

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