Starke Demokratie

18 Thesen für eine Starke Demokratie

17. September 2016, Denknetz-Kerngruppe

Der folgende Text ist das (Zwischen-)Ergebnis einer längeren Diskussionsphase innerhalb des Denknetzes. Die Thesen sind ausschliesslich im Rahmen des Denknetz entstanden und geben nicht die Ansichten der Kooperationspartner des Reclaim-Democracy-Kongresses wieder. Wir freuen uns, wenn sie aufgegriffen werden, Zuspruch und Widerspruch finden. Der Text ist – wie bei Thesen üblich – in einer dichten Sprache geschrieben in der Absicht, mit möglichst wenig Worten das Wesentliche zu sagen.
Ausgangspunkt der Debatte im Denknetz waren eine Feststellung und eine Herausforderung. Dreissig Jahre neoliberale Globalisierungspolitik haben die Spiel- und Vorstellungsräume für Entscheide in den nationalstaatlich verfassten Demokratien unter Bedrängnis gebracht. Dadurch entstand ein demokratiepolitisches Vakuum. Die nationalistische Rechte dringt in dieses Vakuum mit einem völkischen ‚Demokratie’verständnis ein, das zur Verschleierung von nationalistisch-autoritären, teilweise kriegerischen Projekten dient. Soweit die Feststellung. Die Herausforderung: Die Linke und die gesellschaftsliberalen Kreise müssen die eigene Politik der letzten Jahrzehnte kritisch hinterfragen und wieder ein glaubwürdiges Projekt entwickeln, das aufs gesellschaftliche Ganze zielt. Eine starke und umfassende Demokratie kann und muss dabei – so unsere zentrale These – zentraler Ankerpunkt und Vision sein.
Wir plädieren in den Thesen für eine starke Demokratie, in der die Menschen die gesellschaftlichen Verhältnisse auf allen staatlichen und lebensweltlichen Ebenen selbst gestalten können. Dazu gehören auch die Wirtschaft und die Arbeitswelt. Basis ist die Daseinsberechtigung aller BewohnerInnen der Erde und die universelle Gültigkeit der Menschenrechte. Dies bedingt wiederum, dass der Widerstand gegen jede Form von Ausbeutung als legitim anerkannt wird.

1. Eine starke Demokratie ist substanziell
Für funktionierende demokratische Verhältnisse ist es unerlässlich, dass die politischen AkteurInnen nicht nur formalen, sondern auch substanziellen Einfluss auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer Lebensbedingungen nehmen können. Demokratie kann sich die nötige Legitimität und die nötige Bereitschaft zu demokratischem Engagement auf Dauer nur als substanzielle, als starke Demokratie sichern. Das bedeutet, dass alle wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche für demokratische Entscheidungsfindungen und Praxen zugänglich sein müssen. Das betrifft insbesondere auch die Bereiche, die üblicherweise der „Wirtschaft“ zugeordnet oder in der privaten Carearbeit marginalisiert werden. Demokratische Entscheide dürfen zudem auch nicht von demokratie-aversen gesellschaftlichen (Sub)Strukturen unterlaufen werden.

2. Demokratie und Staat stehen in einem ambivalenten Verhältnis.
Der Staat ist Adressat wichtiger demokratischer Forderungen, und er sichert zahlreiche demokratische Errungenschaften ab. Gleichzeitig schwächen staatliche Institutionen und Akteure oftmals die demokratischen Grundlagen und Entscheidungsprozesse, zum Beispiel durch Geheimhaltung, Überwachung, politische Repression oder den Ausschluss z.B. von MigrantInnen. Das Verhältnis von Staat und Demokratie ist demnach ein ambivalentes.
Wir verstehen den Staat als „Verdichtung gesellschaftlicher Verhältnisse“, als Kampffeld, auf dem sich verschiedene Gruppen und Akteure mit unterschiedlichen Interessen gegenüber stehen (z.B. Finanzverwaltung versus Sozialstaat, Regierung versus Parlament, Nationalbank versus Regierung). Der Kampf für eine Starke Demokratie muss demnach im, mit dem und wenn erforderlich gegen den Staat geführt werden. Dabei gilt es – je nach Problemstellung – eine der folgenden drei Stossrichtungen in den Vordergrund zu rücken: (1) die Demokratisierung des Staates, (2) die Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft mit Hilfe des Staates bzw. (3) die Stärkung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Rechte in und gegenüber dem Staat.

3. Die bürgerlich-kapitalistische Demokratie ist eine Protodemokratie
Der Kapitalismus verletzt das Postulat der demokratischen Substanz in grundlegender Weise. Im Kapitalismus erscheint die Wirtschaft als System, das ausserhalb der Gesellschaft und damit ausserhalb des demokratischen Gestaltungsraumes liegt, obwohl es massgeblich über die Verwendung und Verteilung des materiellen Reichtums bestimmt. Die Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung liegt in den Händen der privaten Unternehmen; die Lebenswelt der Arbeit ist hierarchisch organisiert und basiert auf der existenziellen Abhängigkeit der Angestellten vom Erwerbseinkommen. Der Bereich der Carearbeit wird weitgehend ignoriert und marginalisiert, obwohl er für das tägliche Wohlbefinden der Menschen die tragende Rolle einnimmt.
Darüber hinaus wirkt die kapitalistische Wirtschaft als demokratie-averse gesellschaftliche (Sub)Struktur. Die ökonomische Macht versucht ständig, die politischen AkteurInnen und die Medien gefügig zu machen. Politische Entscheide, die den Interessen des Kapitals zuwiderlaufen, werden sanktioniert respektive es wird die Sanktionierung angedroht. Globale Konzerne und Finanzinstitute setzen die Standortkonkurrenz dafür ein, tiefe Steuersätze und geschwächte Auflagen hinsichtlich des Umweltschutzes oder der ArbeitnehmerInnenrechte durchzusetzen. In extremis werden demokratisch gewählte Regierungen auch gewaltsam gestürzt, wenn sie die Macht der Unternehmerklasse bedrohen. Insgesamt hat die politische Demokratie, wie wir sie kennen, dem Kapitalismus (zu) wenig entgegenzusetzen. Deshalb bezeichnen wir die gegenwärtigen bürgerlich-kapitalistischen Demokratien als Protodemokratien.

4. Die Neoliberale Globalisierung hat zu erheblichen
demokratiepolitischen Substanzverlusten geführt

Trotz dieses grundlegenden Defizits gewann die bürgerliche Demokratie in der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Schaffung von Einrichtungen der Sozialen Sicherheit und der öffentlichen Dienste in den führenden kapitalistischen Ländern erheblich an Substanz. Viele Staaten betrieben überdies eine aktive Wirtschafts- und Industriepolitik und griffen direkt in die ökonomische Sphäre ein. Finanzmärkte waren stark reguliert und in ihrer Einflussnahme beschränkt. Auf der demokratiepolitischen Negativseite dieser Epoche fanden sich allerdings ausgeprägte globale Ungleichheiten und die oft brutale Unterdrückung von Befreiungsbewegungen im globalen Süden, starke Repressalien gegen die Einforderung von Systemalternativen (generell als ‚kommunistisch‘ markiert), sowie die strukturelle und politische Diskriminierung der Frauen und weiterer Minderheiten.
Gegen diese Diskriminierungen entwickelten sich machtvolle soziale Bewegungen. Nach jahrelangen Kämpfen hat es der Neoliberalismus verstanden, die Anliegen dieser Bewegungen teilweise zu erfüllen. Formale Diskriminierungen verschiedener Bevölkerungsgruppen (Frauen, sexuelle Minderheiten etc.) wurden abgebaut. Der Zuwachs an individuellen Freiheitsrechten wurde jedoch gleichzeitig instrumentalisiert, um kollektive Einrichtungen zu schwächen und die politische Sphäre zu vermarktlichen resp. auf privat-kommerzielle Partikularinteressen auszurichten. Die neoliberale Globalisierung und die damit verbundenen Deregulierungen und Privatisierungen führten schliesslich zu einer Erosion der demokratisch gestaltbaren Gesellschaftsbereiche (z.B. Gesundheitsversorgung, öffentliches Transportwesen, Energieversorgung, Bildung etc.) und verstärkten damit den protodemokratischen Charakter der Mainstream-Demokratie. Dabei spielten und spielen transnationale Freihandelsabkommen und internationale Schiedsgerichtsbarkeiten eine wichtige Rolle. In eine ähnliche Richtung haben viele der Methoden und Strukturen gewirkt, mit denen die neoliberal geprägte europäische Integration vorangebracht wurde.

5. Die Substanzverluste gefährden den Erhalt demokratischer Rechte und Freiheiten
Demokratische Rechte und Freiheiten, demokratische Verfahren und Institutionen bilden den unerlässlichen formalen Rahmen der Demokratie. Die freie Meinungsäusserung, die Koalitionsfreiheit, das Demonstrations- und Streikrecht usw. können in ihrer Bedeutung kaum unterschätzt werden, ebenso die Autonomie der Rechtsprechung gegenüber Interessensgruppen und der politischen Exekutive. Plebiszitäre demokratische Rechte (Referenden, Volksinitiativen) verschaffen der Stimmbevölkerung direkten Einfluss auf politische Entscheide und sind wichtige demokratische Errungenschaften.
Form und Substanz müssen jedoch aufeinander abgestimmt sein und gemeinsam gefördert werden. Substanzverluste, wie wir sie gegenwärtig erleben, gefährden den Erhalt der demokratischen Rechte, Verfahren und Institutionen. Wert und Legitimität der Demokratie schwinden, wenn ihre reale Bedeutung unterlaufen wird. Sie erleichtern den Abbau demokratischer Freiheiten und die Installierung autoritärer Regimes. Dies ist umso bedrohlicher, als gegenwärtig mit Hilfe der digitalen Durchdringung der Gesellschaft ein Geflecht an neuen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten geschaffen wird, auf dessen Boden neue Formen der Repression und Diskriminierung entstehen (können).

6. Die Starke Demokratie ist der unerlässliche Kern eines realistischen politischen Programms
Das Koordinatensystem der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen wird durch vier programmatische Orientierungen aufgespannt. Die Orientierung auf eine starke Demokratie steht dabei (1) denjenigen auf die neoliberale Privatisierung im Interesse des Kapitals, (2) denjenigen auf Nationalismus und Wohlstandschauvinismus und (3) denjenigen auf (zum Teil religiös unterlegten) Autoritarismus gegenüber. Die letzten drei Orientierungen befördern negative Utopien. Der „freie Markt“ und die Vorstellung, die freie Preisbildung und Allokation von Kapital löse (fast) alle Probleme, ist ein Mythos. Der Rückzug auf nationale Grenzen und die „Besinnung“ auf mystifizierte nationale Identitäten lädt die aktuellen Probleme nationalistisch auf und fördert ein Klima der Aggression, der Diskriminierung und der Kriegstreiberei. Der Autoritarismus schliesslich zielt auf eine skrupellose Herrschaft alter und neuer Eliten und die Entrechtung und Knechtung der Bevölkerung.
Wir sind überzeugt, dass nur die Orientierung auf eine starke Demokratie adäquate Antworten auf die gegenwärtigen Problemlagen zu entwickeln vermag. Nur in einer starken Demokratie findet die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse die erforderliche Legitimität, können Menschenrechte, Freiheitsrechte und kollektive Verantwortung miteinander verbunden werden, lässt sich der Frieden sichern.

7. Eine starke Demokratie rückt Care ins Zentrum
In der täglichen Hausarbeit, in der privat erbrachten Sorgearbeit für Kinder, Kranke und Pflegebedürftige, in der emotionalen Zuwendung und Stützung zwischen Erwachsenen werden mehr Arbeitsstunden aufgewendet als für die gesamte Erwerbsarbeit. Trotzdem bleibt diese Care-Arbeit politisch weitgehend unsichtbar. Sie wird nur sehr beschränkt als gesellschaftliche Sphäre verstanden, die kollektiv mitgetragen werden muss. Doch je stärker die Produktion von Gütern und Sachdiensten durchrationalisiert wird, umso brennender werden die Widersprüche einer Gesellschaft, in der wir immer mehr Zeit für Care haben müssten, faktisch aber immer weniger Zeit dafür aufwenden können, weil der Grossteil der Leute permanent eingespannt ist und weil alle und alles der ökonomisch-kapitalistischen Verwertbarkeit untergeordnet wird.
Eine starke Demokratie wird deshalb Care ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Dazu gehört eine erhebliche Rücknahme der Lebenszeit, die für Erwerbsarbeit aufgewendet werden muss. Dazu gehören öffentlich getragene, für alle verfügbare Care-Einrichtungen in der Kinderbetreuung und in der Versorgung von Kranken und LangzeitpatientInnen. Dazu gehört, dass der Dimension der gegenseitigen Sorge und Zuwendung in allen Bereichen – auch in der Arbeitswelt – der erforderliche Raum verschafft wird. Dazu gehört, dass sogenannt leistungsverminderte Personen in die Arbeitswelt integriert werden.
Erst auf dieser Basis wird es der grossen Zahl von Frauen, deren Lebenswelten stark im Care-Bereich verankert sind möglich, gleichberechtigt an demokratischen Prozessen zu partizipieren. Erst wenn Care politisch so wichtig geworden ist wie es gesellschaftlich ist, sind die Voraussetzungen für die Gleichberechtigung der Geschlechter gegeben.

8. Die Demokratie wird ihre Tragfähigkeit erst voll entwickeln,
wenn es gelingt, den Kapitalismus zu überwinden

Starke Demokratie als Programm bedeutet die Verteidigung und Weiterentwicklung der demokratischen Form und gleichzeitig den Kampf um Substanzgewinne in allen relevanten Bereichen. Solche Substanzgewinne lassen sich teilweise im Rahmen kapitalistischer Gesellschaften erzielen. Der Ausbau der öffentlichen Care-Dienste und geeignete Massnahmen zur Förderung der Gendergerechtigkeit in den skandinavischen Staaten sind hierfür ein Beispiel, ebenso manche Standards, die im Bereich des Umweltschutzes gelten. Gleichzeitig bedeutet Starke Demokratie als Programm aber auch, auf die Überwindung des Kapitalismus hinzuwirken. Denn nur mit einer solchen Überwindung können die zentralen ökonomischen Entscheide in den demokratischen Zugriff genommen, kann damit die nötige Grundsubstanz für eine starke Demokratie erreicht werden. Finanzmärkte müssen ausreichend reguliert und teilweise in öffentliche Dienste überführt werden. Investitionsentscheide von grosser gesellschaftlicher Bedeutung müssen in demokratisch legitimierten Prozessen gefällt werden. Ein genügender Teil des gesellschaftlichen Reichtums muss unter die Kontrolle der Allgemeinheit gebracht und zur Sicherung und für den Ausbau guter öffentlicher Dienste verwendet werden. Die Nachhaltigkeit im Umgang mit Rohstoffen, Produkten und Produktionsverfahren muss durch demokratische Steuerung und Kontrolle gesichert werden. Innerhalb von Betrieben, Firmen und Branchen müssen demokratische Rechte und Prozesse etabliert werden. Und schliesslich muss die Transparenz und die Kontrolle über ökonomische Kenngrössen durchgängig gewährleistet werden.

9. Die Unternehmen müssen vom Kapitalismus befreit werden
Wir verbringen einen wesentlichen Teil unserer Zeit in der Arbeitswelt. Hier erleben wir zentrale gesellschaftliche Konflikte und Kämpfe, sei es im positiven Sinne als Solidarität oder negativ als permanenter Leistungswettbewerb aller gegen alle, als Erfahrungen der Ohnmacht, Entfremdung und Ausbeutung. Solche Erfahrungen beeinflussen unsere Werte, Erwartungen und Hoffnungen massgeblich. Schon allein aus diesem Grund muss eine Stärkung der Demokratie zwingend mit der Demokratisierung der Unternehmen und Betriebe einhergehen. Sie müssen sich von einem Ort überwiegender Anpassung und Unterwerfung zu einem Ort der partizipativen Gestaltung wandeln. Konflikte müssen offen ausgetragen werden können. Gewerkschaftliche Freiheiten und Mitbestimmungsrechte sind wichtige Schritte in diese Richtung, sie reichen dazu aber nicht aus. Erst in dem Masse, wie die Unternehmen aus dem Korsett des Kapitalismus befreit werden, wie also andere Kriterien als die Gewinnoptimierung voll zur Geltung kommen können, wird es möglich sein, die betriebliche Ebene in ihrer ganzen Vielfalt zu entwickeln. Kreativität, Qualität, Lernen, Kooperation, gegenseitige Sorge (Care) und Unterstützung, kulturelle Dimensionen stehen dann nicht mehr unter dem Damoklesschwert der Kapitalverwertung und können in eine lebensbejahende Balance mit Effizienz und Leistungsbereitschaft gebracht werden. Arbeitende – und mit wachsender Unternehmensgrösse und -bedeutung weitere Anspruchsgruppen – werden nun von Betroffenen zu Mitbestimmenden und Beteiligten. Vom Kapitalismus befreite Unternehmen wirtschaften bedarfsorientiert und tragen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme bei statt sie, wie das heute viel zu oft der Fall ist, zu schaffen. Die kapitalismusspezifische Trennung von Privateigentum und Verantwortung, wie sie zum Beispiel in den Aktiengesellschaften institutionalisiert ist, wird aufgebrochen, Eigentum wieder mit Verantwortung zu Gemein-Eigentum zusammengeführt. Genossenschaften und andere gemeinwohlorientierte Rechtsformen gewinnen massiv an Bedeutung.

10. Starke Demokratie ist ein offener Prozess
Trotz aller Einschränkungen haben die bürgerlichen Protodemokratien viele Potentiale der Demokratie freigelegt und vielfache Belege erbracht, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse auf demokratische Weise gestalten lassen. Dasselbe gilt auch für manche vorkapitalistischen Gesellschaftsformen, deren Erfahrungsschatz von Feudalismus und Kolonialismus oft zugeschüttet worden ist und unter anderem von den PromotorInnen des Buen Vivir wieder zutage gefördert werden.
Hunderttausende von Bewegungen, Vereinen, Organisationen haben Formen der Demokratie erprobt, sind gescheitert oder erfolgreich gewesen, haben aber in jedem Fall ein grosses Repertoire an demokratischen Erfahrungen geschaffen. Demokratie muss sich immer wieder von neuem entwickeln und festigen, in einem beständigen und vielfältigen Panoptikum demokratischer Praxen. Das Ziel ist eine Gesellschaft, in der sich die Menschen gegenseitig immer wieder zur Demokratie befähigen und in kollektiven Lernprozessen Lösungen für die drängenden Probleme ihrer Zeit finden.
Zu diesen drängenden aktuellen Problemen gehören die Nachhaltigkeit in Produktion und Konsum, die Vorstellungen von Wohlstand und gutem Leben im Sinne kollektiver Suffizienz und der Care-Orientierung, die (globale) Neuverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, eine zukunftsfähige Steuerung der ökonomischen und infrastrukturellen Investitionen, der Aufbau einer Kultur der Konfliktfähigkeit und der Verhandlungskompetenz. Bei der Lösungsfindung müssen allen Menschen auf dieser Erde akzeptable Lebensperspektiven eröffnet werden. In den internationalen Beziehungen muss das Primat der Konkurrenz durch ein Primat der Kooperation ersetzt werden, und es muss eine Periode der Wiedergutmachung gegenüber den Nationen und Völkern eröffnet werden, die in der Ära des Kolonialismus und des Imperialismus unterdrückt und ausgebeutet worden sind.
Demokratie gelingt dann, wenn die heute in Konflikten gebundene Energie für Entwicklungen freigesetzt werden kann, bei denen alle Betroffenen Fortschritte erkennen können, zu Beteiligten werden und gegenseitigen Respekt entwickeln. Demokratie ist nur als offener Prozess zu verwirklichen. Rückschläge sind unvermeidlich, und auch ein weitergehendes Scheitern lässt sich nicht ausschliessen. Umso wichtiger ist es, Demokratie als kollektiven Lernprozess zu verstehen, in dem Konflikte bearbeitet, nicht versteckt oder unterdrückt werden – als starke Demokratie also.

11. Demokratie ist praktisch und alltäglich
Demokratie wird nur in der Praxis gesichert. Demokratie muss weit mehr sein als eine Zusatzlast für überfrachtete Ich-AGs. Demokratie muss Eingang finden in all jene Lebenswelten, die für Menschen essenziell sind und in denen sie in Kollektive eingebunden sind. Starke Demokratie ist eine Angelegenheit der täglichen Kultur und basiert auf der Erfahrung lebendiger, fruchtbarer kollektiver Prozesse in Quartieren, Betrieben, Projekten ,Gemeinden, Verbänden, Bewegungen, in ganzen Nationen und auf globaler Ebene. Starke Demokratie beruht auf der gemeinsamen Verantwortung für den Care-Bereich. Eine ausreichende Zeitautonomie und gute Bildung für alle sind für eine solche demokratische Praxis unabdingbar. Ebenfalls notwendig ist eine mediale Öffentlichkeit, die Transparenz, Machtkontrolle und umfassende Information sicherstellt. Social Media können beitragen, diese Öffentlichkeit zu stützen. Auch im digitalen Zeitalter von zentraler Bedeutung bleibt aber der professionelle Journalismus. Zu einer substanziellen Demokratie gehören Anbieter- resp. Eigentümervielfalt im Medienbereich und Produktions- resp. Arbeitsbedingungen, die einen demokratiegerechten Journalismus ermöglichen.

12. Eine Demokratie mit allen und für alle wird getragen von einer Vielzahl von Demoi
Wo es – im „Kleinen“ oder im „Grossen“ – um die Gestaltung kollektiver Belange geht, besteht Entscheidungs- und Handlungsbedarf und muss nach dem relevanten Demos, nach der Gemeinschaft der Betroffenen, nach der demokratischen Körperschaft gefragt werden. Dies gilt für regionale Gemeinschaften wie Wohnkollektive, Quartiere, Gemeinden, Bezirke, Kantone, Länder, Ländergemeinschaften und die Weltgemeinschaft. Dies gilt ebenso in Institutionen, Betrieben, Berufsgruppen, Branchen und so weiter.
Demokratie basiert nicht nur auf einem einzelnen Demos, sondern auf einer Vielzahl von Demoi, die miteinander vernetzt und voneinander abhängig sind. Eine Demokratie mit allen und für alle muss sich demnach auf ein Gewebe von Demoi stützen. Diese Demoi brauchen untereinander formalisierte, aber auch informelle Grundlagen der Verständigung und der Handhabung von Konflikten.

13. Grundlage der Demokratie sind die universell gültigen Menschenrechte
In einer globalisierten Weltgesellschaft muss dieses Gewebe an Demoi einen übergeordneten Bezugsrahmen finden, der die gesamte Menschheit und ihre gemeinsamen Belange repräsentiert. Die Menschenrechte bilden dafür die normative Grundlage. Sie verpflichten jeden partikularen Demos dazu, die grundlegenden Ansprüche aller Menschen und aller andern Demoi zu respektieren. Zwar lassen die Menschenrechte in gewissem Umfang widersprüchliche Interpretationen zu, und ihre Entwicklung, Auslegung und Durchsetzung ist ein weites Kampffeld. Doch gleichzeitig stellen sie eine Ganzheit dar, die auf der Daseinsberechtigung aller Menschen gründet. Die Menschenrechte sind deshalb eine fundamentale zivilisatorische Errungenschaft, mit der anerkannt wird, dass alle Menschen über grundlegende Rechte und Lebensansprüche verfügen.

14. Der globale Handlungsbedarf macht globale Institutionen und Verfahren erforderlich
Durch die zunehmende Vernetzung der Weltgesellschaft hinsichtlich Wirtschaft, Mobilität, Informationen und ihrer Nutzung, Kultur usw. ist ein wachsender globaler Handlungsbedarf entstanden. Dazu gehören der Schutz der Weltmeere, die Bewältigung und Rückbildung des Klimawandels, Weltgesundheitsfragen, die Regelung von Konflikten, die Gestaltung von Wirtschaftsbeziehungen und Arbeitsbedingungen, die Festlegung von global gültigen technischen Normen und Standards und vieles mehr. Dieser Handlungsbedarf muss durch Institutionen und Prozesse erfasst werden, die demokratisch legitimiert sind. Der Aufbau solcher Institutionen und Prozesse wird allerdings durch die Konkurrenzanordnung des globalisierten Kapitalismus, durch imperiale Machtpolitik und durch Rassismus, Nationalismus und Sexismus erheblich erschwert und oft verunmöglicht. Wir brauchen deshalb eine Vielzahl von internationalen Kooperationen und Bündnissen, die auf eine Überwindung von Ausbeutung, Unterdrückung und Umweltverschmutzung zielen. Solche Bündnisse müssen in der kommenden Periode massiv an Einfluss gewinnen.

15. Protodemokratien zeichnen sich durch Ausschluss und Abschottung aus
Solange Gesellschaften durch Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse geprägt sind, solange wird es formelle und faktische Verfahren geben, um Menschen von Macht und Einfluss auszuschliessen, weil Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse gegen die betroffenen Menschen durchgesetzt werden müssen. Solche Ausschlüsse treffen subalterne Klassen, Frauen, kolonisierte Völker, Rassen, MigrantInnen, kulturelle und sexuelle Minderheiten. Sie müssen nicht formaler Natur sein, um wirksam zu sein. Wer zum Beispiel über hohe Einkommen und Vermögen verfügt, kann wesentlich mehr Einfluss auf politische Prozesse und Entscheide nehmen als jemand, der nur geringe Einkünfte hat. Formen der Ausbeutung und Diskriminierung haben die Geschichte während Jahrhunderten geprägt und sind auch heute noch tief in die Gesellschaften eingebrannt. Demokratie bedeutet, kompromisslos auf die Beseitigung aller Formen von Diskriminierung und von Exklusion hinzuarbeiten. Die Kernländer Europas, die am Ursprung von Kolonialismus, Kapitalismus und Imperialismus gestanden haben, stehen dabei besonders stark in der Verantwortung.

16. Rassistische, kulturalistische oder nationalistische Demokratiekonzepte
sind antidemokratisch

Nationalistische Rechtsparteien nehmen für sich in Anspruch, „für das Volk“ zu sprechen. Sie stellen die Lebensrechte des von ihnen ausgewählten Volkes an die erste Stelle. Dabei werden die verschiedenen Völker, Kulturen oder Religionen unweigerlich gegeneinander aufgestellt. All jene, die von diesen Rechtsparteien nicht zu ihrem Volk gezählt werden, werden ausgeschlossen. Migrantinnen und Migranten werden zu Sündenböcken für alle möglichen Probleme gestempelt, und ihre Rechte sollen beschnitten werden. Flüchtende sollen abgewehrt und der Unterdrückung, dem Elend oder dem Tod überlassen werden. Die Staatsbürgerschaft soll konservativ gehandhabt, Einbürgerungen möglichst erschwert werden. Selbst wer das Bürgerrecht „nur“ erworben hat, muss sich von der nationalistischen Rechten und ihren Vertretern oft als BürgerIn zweiter Klasse beschimpfen lassen. In letzter Zeit wird sogar die Aberkennung der Staatsbürgerschaft salonfähig. Diese Logik des Ausschlusses ist, einmal lanciert, kaum mehr einzuhegen. Sie spaltet die Leute, die gemeinsam die jeweiligen Demoi bilden sollten. Sie stellt eine besonders perfide Form von Herrschaftssicherung dar nach dem alten Motto ‚Teile und Herrsche‘. Sie setzt die Menschenrechte ausser Kraft.

17. Die Instrumente der plebiszitären Demokratie sind eine wichtige Errungenschaft
Die Schweizerische Volkspartei SVP hat in den letzten Jahren geschickten Gebrauch von Volksinitiativen gemacht und damit bei nationalistischen, z.T. offen rassistischen Parteien in ganz Europa grosse Resonanz gefunden. Die nationalistischen Rechtsparteien Europas fordern plebiszitäre Einrichtungen nach Schweizer Vorbild und versuchen so, sich als Gralshüter der Demokratie gegen „die da oben in Bern, Berlin, Paris oder Brüssel‘ zu positionieren. Gleichzeitig machen sie aus ihrer Bewunderung für autoritäre Regimes oftmals keinen Hehl.
Wir erachten es nun allerdings als falsch, aus Angst vor rechten, nationalistischen Entscheiden eine Einschränkung der plebiszitären demokratischen Rechte zu fordern oder zu billigen. Die faktische Aushebelung demokratischer Rechte ereignet sich laufend und immer dann, wenn essenzielle Interessen der herrschenden Eliten tangiert sind. Die Linke hat allen Grund, die plebiszitären Rechte uneingeschränkt zu verteidigen. In der Schweiz muss als wichtigen Ausbauschritt auf nationaler Ebene das konstruktive Referendum gegen Mogelpackungen eingefordert werden.

18. Wir brauchen starke Bewegungen und Organisationen für eine starke Demokratie
Die fortschrittlichen demokratischen Kräfte brauchen eigenständige Formen der Organisation und der Bewegung, in denen Horizontalität und Struktur, demokratische Partizipation und Entscheidungsfähigkeit verbunden werden. Sie müssen dem Sog der Integration in bestehende Machtstrukturen widerstehen und dürfen sich in ihrer Wirkung trotzdem nicht auf gesellschaftliche Nischen beschränken. Sie müssen lokal, national und international Bündnisse aufbauen, um die erforderlichen Kräfteverhältnisse für eine Starke Demokratie aufzubauen. All dies wird nicht in jedem Zeitpunkt gelingen. Aber in der von Widersprüchen geprägten kapitalistischen Gesellschaft ergeben sich immer wieder Momente, in denen demokratische Bewegungen beträchtliche Fortschritte und letztlich auch Durchbrüche erreichen können.

PDF

Du kannst die 18 Thesen für eine Starke Demokratie als PDF zum Ausdrucken herunterladen.

Denknetz

Das Denknetz ist gleichermassen den Grundwerten der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität verpflichtet. Es befürwortet eine Ausweitung der Demokratie auf alle relevanten gesellschaftlichen Prozesse, auch auf die zentralen Entscheide über die Verwendung der ökonomischen Ressourcen.

Steckbrief des Denknetzes ›

Video

Kontakt

Denknetz
Postfach
8036 Zürich
E-Mail: info@denknetz.ch
Website: www.denknetz.ch